energiestiftung.ch energiestiftung.ch Magazin 2024-04-Energie&Umwelt → Fokus: Atomkraftwerke zu teuer und zu spät
Energie und Umwelt - Das Stromgesetz

Atomkraftwerke: zu teuer und zu spät

Mit der Zunahme extremer Wetterereignisse auf der ganzen Welt werden die Folgen des Klimawandels konkreter, und die Regierungen sehen sich veranlasst, sich stärker um die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Stromsektor zu bemühen. Atomkraftwerke, die seit Fukushima in Ungnade gefallen sind, erhalten in letzter Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit.

Die Kernenergie ist (zumindest in der Phase der Stromerzeugung) treibhausgasfrei und verspricht eine kontinuierlichere Stromerzeugung als die wetterabhängige Solar- und Windenergie. Aber macht diese erneute Aufmerksamkeit Sinn? Kann die Atomkraft eine nützliche Rolle in einem Stromerzeugungsmix spielen, der dazu beiträgt, die Treibhausgasemissionen im Einklang mit dem 1,5-Grad-Szenario des Pariser Klimaabkommens zu senken? Die Antwort auf diese Frage hängt hauptsächlich von zwei Faktoren ab: Zeit und Geld.

von Jan Willem van Gelder, Direktor, und Jeroen Walstra, Finanzanalyst, von Profundo Research & advice, Amsterdam

 

Vergleich der jüngsten Atomkraftprojekte

Im Auftrag der niederländischen zivilgesellschaftlichen Organisation WISE Netherlands analysierte Profundo die tatsächlichen Kosten und Zeitpläne von sechs aktuellen Grossprojekten für den Bau neuer Atomkraftwerke:

  • Barakah 1-4 in den Vereinigten Arabischen Emiraten
  • Flamanville 3 in Frankreich
  • Hinkley Point C 1-2 im Vereinigten Königreich
  • Olkiluoto 3 in Finnland
  • Shin Hanul 1-2 in Südkorea und
  • Vogtle 3-4 in den Vereinigten Staaten

Alle sechs Projekte betreffen Druckwasserreaktoren der Generation III+, die von Unternehmen aus Frankreich, den Vereinigten Staaten und Südkorea gebaut werden. Dies sind die Unternehmen, die die niederländische Regierung für den Bau von zwei oder vielleicht vier neuen Kernreaktoren in den Niederlanden in Betracht zieht.

 

Budgetüberschreitungen sind Standard

Wir haben die Kosten dieser sechs Atomkraftprojekte untersucht und uns hierfür zunächst die Budgets vor Baubeginn angesehen. Dann haben wir diese Budgets mit den Berechnungen der tatsächlichen Kosten verglichen, als die Projekte abgeschlossen waren. Wenn die tatsächlichen Kosten (noch) nicht bekannt waren, haben wir eine Schätzung auf der Grundlage der verfügbaren Daten vorgenommen. Was bei diesem Vergleich am meisten auffällt, ist die Tatsache, dass alle Projekte erhebliche Budgetüberschreitungen aufwiesen.

Das lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. AKW sind technologisch sehr komplex, auch aufgrund der höheren Sicherheitsanforderungen. In vielen Ländern können sie als First Of A Kind (FOAK)-Projekte betrachtet werden, die immer mit zusätzlichen Kosten verbunden sind, da es nur wenig (lokale) Erfahrung mit dieser Art von Projekten gibt. Das regulatorische Umfeld, die lokale Wissensbasis und die Verfügbarkeit von erfahrenen Planerinnen, Ingenieuren, Bauunternehmerinnen und Lieferanten müssen auf die Bedürfnisse des FOAK-Projekts zugeschnitten sein.

Das kostet Zeit und verursacht Kosten. Ein Beispiel: Die Anforderungen an die Qualitätskontrolle machen schätzungsweise 23 Prozent der Kosten für Beton und 41 Prozent der Kosten für den in AKW verwendeten Baustahl aus.[1] Die australische Wissenschaftsbehörde CSIRO kam zu folgendem Schluss: «Die Stromkosten für neue Technologien sind zwischen den Ländern ‹nur schwach übertragbar›, und die Kostenunterschiede können auf Unterschiede bei den Installations-, Wartungs- und Brennstoffkosten oder auf Subventionen und ein unterschiedliches Mass an staatlichem und privatem Eigentum zurückzuführen sein.» [2]

Es ist ausserdem gut zu wissen, dass die zusätzliche Zeit, die für ein FOAK-Projekt benötigt wird, nicht nur die bestehenden Kosten auf einen längeren Zeitraum verteilt, sondern dass sie auch selbst ein wichtiger Faktor für Kostenüberschreitungen ist. Die Arbeitskosten werden erheblich steigen, wenn spezialisierte Arbeitskräfte für einen viel längeren Zeitraum benötigt werden. Das Gleiche gilt für die Lagerkosten von Geräten, die auf Lager gehalten und später geliefert werden. Und die Zinsen für Gelder, die über einen längeren Zeitraum aufgenommen werden, können sich zu sehr hohen Beträgen summieren. Eine Studie des DIW Berlin kam zu dem Ergebnis, dass bei einer fünfjährigen Bauzeit der Anteil der Zinsen an den Gesamtbaukosten bei etwa 16 Prozent liegen wird. Wenn die Bauzeit auf 15 Jahre ansteigt, erhöht sich der Anteil der Zinsen auf 41 Prozent der gesamten Baukosten.[3]

Infolge dieser verschiedenen Faktoren lagen die tatsächlichen Kosten der sechs von uns untersuchten AKW-Projekte zwischen dem 1,6- und 6,0-fachen der ursprünglichen Kostenvoranschläge. Der mittlere Faktor der Budgetüberschreitung für alle sechs Projekte betrug 3,1. Das bedeutet, dass diese AKW im Durchschnitt dreimal so viel gekostet haben, wie veranschlagt war.

 

Kosten pro Kilowatt viel höher als vorhergesagt

Überschreitungen des Baubudgets haben natürlich Auswirkungen auf die Kosten pro Kilowatt. Die Internationale Energieagentur (IEA) verwendet in ihren Szenarien einen Wert von EUR 6’230 pro Kilowatt elektrischer Leistung (kWe) für Kernenergie. Zwei Studien aus den Niederlanden sind optimistischer.[4] Eine Studie von KPMG aus dem Jahr 2021 ermittelte durchschnittliche Kosten pro kWe installierter Leistung von EUR 4’973.[5] Witteveen + Bos haben in ihren Szenarien für 2022 sogar mit Kosten von EUR 3’520 pro kWe gerechnet.[6]

Unsere Analyse zeigt, dass die durchschnittlichen Kosten der sechs jüngsten Atomkraftprojekte EUR 9’665 pro kWe betragen. Im Vergleich dazu liegen die durchschnittlichen Kosten pro kWe für erneuerbare Energiequellen zwischen 1’050 (Photovoltaik), 1’850 (Onshore-Windenergie) und 3’620 (Offshore-Windenergie).

Wie sich die hohen Kosten der Kernenergie pro Kapazitätseinheit auf die Strompreise auswirken, hängt auch von anderen Faktoren ab, die nicht Teil unserer Untersuchung waren. Dazu gehören die Betriebskosten, die Anzahl der Betriebsstunden pro Jahr und die Lebensdauer der Anlage. Im Vergleich zu Solar- und Windenergie hat die Atomkraft den Vorteil, dass sie viel mehr Stunden im Jahr Strom produzieren kann. Aber das allein wird den enormen Unterschied bei den Baukosten von Solar- und Windkraftanlagen nicht ausgleichen. Das bedeutet, dass Strom aus AKW auf dem Markt, wo Solar- und Windkraft zunehmend den Ton angeben, nur dann wettbewerbsfähig sein kann, wenn die hohen Baukosten auf eine sehr lange Laufzeit verteilt werden oder wenn die Projektverantwortlichen den Verlust der Budgetüberschreitung in der Bauphase in Kauf nehmen.

 

Wer trägt die Hauptlast?

In beiden Fällen scheinen die Regierungen einen grossen Teil der Last zu tragen. Die Verteilung der hohen Baukosten auf eine sehr lange Lebensdauer ist nur möglich, wenn diejenigen, die sie finanzieren, sehr lange Rückzahlungsfristen akzeptieren, was sie ohne starke staatliche Garantien, die öffentliche Mittel binden, nicht tun werden. Wie unsere Analyse zeigt, entstehen ausserdem hohe Verluste an öffentlichen Geldern, wenn die Projektverantwortlichen den Verlust der Budgetüberschreitung in der Bauphase tragen müssen.

Alle sechs von uns untersuchten Atomkraftprojekte werden sowohl von Unternehmen als auch von der Regierung finanziert. Die Beteiligung der Regierung am wirtschaftlichen Eigentum der Projektkonsortien variiert von etwa einem Viertel bis hin zum vollständigen Eigentum. Im Durchschnitt liegt die staatliche Beteiligung bei 64,3 Prozent. Am höchsten ist der Staatsanteil in Frankreich (100 Prozent) und im Vereinigten Königreich (90,8 Prozent). Aber auch in Finnland (28,5 Prozent) und in den Vereinigten Staaten (24,3 Prozent) ist die staatliche Beteiligung an den Projekten beträchtlich, obwohl die Projekte ausschliesslich von Privatunternehmen getragen werden.

Im Gegensatz zu anderen Arten der Stromerzeugung sind AKW daher nur rentabel, wenn sie von der Regierung finanziell stark unterstützt werden. Aber ist dies der klügste und effizienteste Weg, um die für die Eindämmung des Klimawandels vorgesehenen staatlichen Mittel auszugeben?

 

Bauarbeiten dauern viel länger als geplant

Ob staatliche Ausgaben für AKW ein effizienter Weg zur Finanzierung des Klimaschutzes sind, hängt stark davon ab, wie lange es dauert, neue AKW zu bauen. Seit dem Pariser Klimaabkommen ist die Welt bestrebt, den durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg auf 1,5 ºC zu begrenzen, indem sie die Treibhausgasemissionen rasch reduziert. Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC) hat errechnet, dass dies eine Verringerung der weltweiten Treibhausgasemissionen um 43 Prozent bis 2030 (im Vergleich zu 1990) und eine Reduzierung auf Netto-Null bis 2050 erfordert.[7] Investitionen in die Eindämmung des Klimawandels sollten daher so schnell wie möglich zu einer Verringerung der Treibhausgasemissionen führen.

Die gleichen Faktoren, die zu Budgetüberschreitungen bei Atomenergieprojekten führen, verursachen jedoch auch erhebliche Verzögerungen bei diesen Projekten. Die geplanten Bauzeiten der sechs von uns untersuchten Projekte schwankten zwischen 3,9 und 8,5 Jahren, während die tatsächlichen Vorlaufzeiten deutlich höher waren: 12,1 bis 17,7 Jahre. Der mittlere Eskalationsfaktor für die Dauer dieser sechs Projekte betrug 2,6, was bedeutet, dass die Fertigstellung der Bauarbeiten im Durchschnitt 2,6 Mal so lange dauerte wie geplant.

Die durchschnittliche Bauzeit der sechs Projekte beträgt 14,3 Jahre. Das bedeutet, dass ein Land, das heute mit der Planung eines neuen AKW beginnt, nicht damit rechnen sollte, dass dieses zur Erreichung seiner Klima-Ziele für 2040 beitragen wird. Wie gross der Beitrag dieser Anlage im Zeitraum 2040–2050 zur Erreichung des Netto-Null-Ziels sein kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorhersagen.

Zu teuer und zu spät

Profundos Analyse der Baukosten und Bauvorlaufzeiten von sechs neueren Atomkraftwerken führt zu dem Schluss, dass der Beitrag eines noch zu planenden AKW zu den Klimaschutzzielen eines Landes bestenfalls recht gering ausfallen wird. Die Stromkosten werden hoch sein und der Kostenunterschied zu Solar- und Windenergie wird nur noch grösser werden. Da auch die Kosten für die Stromspeicherung sinken, wird es zunehmend zweifelhaft, ob Investitionen in AKW der kosteneffizienteste Weg sind, um den Klimawandel einzudämmen und eine stetige und treibhausgasfreie Stromversorgung zu gewährleisten.

 

Quellenangaben

  1. IFP (1. Mai 2023), «Why Does Nuclear Power Plant Construction Cost So Much?», abgerufen im August 2024.
  2. Graham, P. et al. (Mai 2024), GenCost 2023-24: Abschlussbericht, S. 26–27, Australien: Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO).
  3. Wealer B. et al. (2019), Economics of Nuclear Power Plant Investment, Monte Carlo Simulations of Generation III/III+, S. 21.
  4. Internationale Energieagentur (Oktober 2023), World Energy Outlook 2023, S. 301.
  5. KPMG (2021, 1. Juli), Nuclear market consultation (pdf), abgerufen im Juli 2024.
  6. Witteveen + Bos (26. September 2022), Scenariostudie kernenergie (pdf), S. 41, abgerufen im Juli 2024.
  7. Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen (4. April 2022), «The evidence is clear: the time for action is now. We can halve emissions by 2030.»

Dieser Fokus-Artikel ist aus dem Englischen übersetzt und leicht gekürzt. Der Originaltext der beiden Autoren basiert auf ihrer «Profundo»-Studie: «Financing new nuclear – Governments paying the price?», publiziert am 10. Oktober 2024.

Jan Willem von Gelder

Jan Willem von Gelder

Director Profundo research & advice, Amsterdam

www.Profundo.nl

Jan Willem von Gelder

Jeroen Walstra

Financial Researcher Profundo research & advice, Amsterdam

www.Profundo.nl

Illustrationen

DNA
Stationsstrasse 36, 8003 Zürich

https://dna.work/

Energie&Umwelt abonnieren

Abonnieren

«Energie & Umwelt»

Das Magazin der SES erscheint vier Mal jährlich. Sie können es als Print- oder Online-Ausgabe abonnieren.

Jetzt «Energie & Umwelt» abonnieren