Atomenergie: Was kann die Schweiz von Deutschland und Frankreich lernen?
Stephanie Eger,
Wo Frankreich etwa 70 Prozent seines Stroms aus Kernkraft bezieht, ist Deutschland im April 2023 definitiv aus der Atomenergie ausgestiegen. Wie steht es jetzt um die Stromversorgung in beiden Ländern?
Kühlturm-Abriss am AKW Biblis, Deutschland, 2023 (Bild: Bernd Hartung / Greenpeace)
Deutschland
Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima entschied sich Deutschland für den schrittweisen Ausstieg aus der Hochrisikotechnologie Atomkraft. Preissteigungen, Strommangel und steigende CO2-Emissionen wurden vorausgesagt. Ein Jahr nach dem Abschalten des letzten AKW hat sich das Gegenteil eingestellt: Der deutsche Strommix wurde billiger und grüner und von Defiziten ist keine Rede[1].
Laut dem deutschen Bundesamt für Umwelt sank der Stromverbrauch in den Jahren 2022 und 2023 auf den niedrigsten Wert seit Beginn der Wiedervereinigung.[2] Das ist zwar einerseits auf steigende Kosten wegen des Ukraine-Kriegs und der Gasknappheit zurückzuführen, andererseits wurde aber auch in Solaranlagen sowie in stromsparende Prozesse und Geräte investiert. Diese Effizienzmassnahmen sorgen sowohl in Privathaushalten als auch im Industriebereich für Energie- und Kostenersparungen.
Gleichzeitig boomen die Erneuerbaren in Deutschland. Dank dem einheimischen Ausbau wurden schon im Jahr nach dem Atomausstieg zusätzliche 32 Terawattstunden durch Erneuerbare im Vergleich zum letzten Jahr mit Atomkraft erzeugt.[3] Gleichwohl führte Deutschland 2023 mehr Strom ein als aus, aber der Grund dafür lag nicht etwa in einem Stromdefizit: Der ausländische regenerative Strom war einfach billiger und CO2-freundlicher als die einheimische Stromerzeugung aus fossilen Quellen, die zu teuer für den Markt war. Was in der Schweiz als «ausländische Abhängigkeit» dargestellt wird, zeigt also in Wahrheit die Wirkung des Europäischen Strommarktes.
Frankreich
«Die Zeit der nuklearen Renaissance ist gekommen», so Frankreichs Präsident Macron Anfang 2022. Er kündigte den Bau von sechs neuen Reaktoren an und hegte die Absicht, weitere acht zu prüfen.[4] Nur fünf Monate später musste die französische Regierung bekannt geben, dass sie den grössten Energiekonzern des Landes «EdF» für 8 Milliarden Euro verstaatlicht, weil er für Unsummen einen veralteten und unzuverlässigen AKW-Park unterhalten musste, die Schulden ständig anstiegen und sich Investoren zurückzogen.
Praktisch gleichzeitig als in Deutschland die letzten AKW vom Netz gingen, wurde in Frankreich die EdF-Verstaatlichung vollzogen. Die Schulden war mittlerweile auf über 64 Milliarden Euro angewachsen.[5] Wegen fehlenden Unterhaltsinvestitionen stand 2022 die Hälfte der französischen Atomflotte still und der Ersatzstrom musste für Rekordpreise aus dem Ausland bezogen werden. Hinzu kam infolge des Ukrainekriegs die Drosselung der Strompreiserhöhungen für die Kundinnen und Kunden. Um diese Verluste der Stromversorger zu kompensieren, mussten die französischen Strompreise innerhalb von zwölf Monaten gleichwohl mehrmals um insgesamt 39 Prozent erhöht werden. Und die nächste Erhöhung steht schon an.[6]
Auch die «nukleare Renaissance» musste seitdem heftige Rückschläge hinnehmen. Aktuelle AKW-Bauprojekte von EdF verzögern sich weiterhin um Jahre und die Kosten explodieren. Der Bau von Flamanville 3 im eigenen Land dauerte 12 Jahre länger als geplant, mit einer Kostenüberschreitung von 10 Milliarden Euro. Die Kostenüberschreitung für das laufende Neubauprojekt von EdF in Hinkley Point (Grossbritannien) werden mittlerweile sogar auf 50 Milliarden Euro geschätzt. Zuletzt wurde vor wenigen Wochen bekannt, dass EdF technische Probleme und zu grosse finanzielle Risiken mit den Entwürfen ihres «Small Modular Reactor»-Projektes hat und sich darum fortan auf «bestehende Technologien» konzentriert.[7]
Lehren für die Schweiz
In der Schweiz versuchen die Atombefürworter:innen die Bevölkerung zu verführen mit der angeblich CO2-freien und «einheimischen» Atomenergie (dabei stammt das benötigte Uran aus dem Bergbau von Ländern wie Russland oder Kasachstan) und schüren Ängste mit Drohungen von steigenden Energiepreisen und Stromausfällen. Die Situationen in Frankreich mit seinen 70 Prozent Atomstrom und in Deutschland – seit über einem Jahr AKW-frei – zeigen, dass die Szenarien genau umgekehrt eintreten. Der deutsche Strommix wird dank zügigem Ausbau der Erneuerbaren und schlauen Importen immer grüner und billiger. Der französische Staat kämpft mit ausufernden Kosten aus unverlässlichen AKWs und ständigen Rückschlägen in der Verwirklichung der «nuklearen Renaissance» – sowie steigenden Stromkosten für die Bevölkerung. Und die Folge der staatlichen «Rettung» wird ein weiteres Wachstum der jetzt schon rekordhohen Staatsverschuldung sein.[8]
[1] https://www.cleanenergywire.org/factsheets/qa-germanys-nuclear-exit-one-year-after; https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/06/PD24_219_43312.html; https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/strompreis-entwicklung-atomausstieg-akw-100.html
[2] https://www.umweltbundesamt.de/daten/energie/stromverbrauch
[3] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ein-jahr-atomausstieg-deutschland-100.html
[4] https://www.zeit.de/news/2022-02/10/macron-kuendigt-renaissance-der-franzoesischen-atomkraft-an
[5] https://www.bbc.com/news/world-europe-64674131
[6] https://www.iwr.de/news/strompreis-schockwelle-in-frankreich-dritte-grosse-preiserhoehung-fuer-verbraucher-in-einem-jahr-news38580
[7] https://www.reuters.com/business/energy/frances-edf-drops-plans-develop-its-own-small-nuclear-reactor-technology-2024-07-01/
[8] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/frankreich-haushaltsdefizit-100.html
Stephanie-Christine Eger
Leiterin Fachbereich Atomenergie
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