Deutschlands Energiewende im Faktencheck
Energiewende-Pionier Deutschland trimmt sein Energiesystem seit Jahren auf erneuerbar. Die deutsche Förderpolitik wird dabei von einer kritischen öffentlichen Debatte begleitet. Auch in der Schweiz wird das Scheitern der Energiewende oft beschworen. Was ist dran an den Vorwürfen? Die SES macht den Faktencheck.
Von Tonja Iten*
Weltweit laufen Bestrebungen, das umweltschädigende, fossil-nukleare Energiesystem in ein nachhaltiges, erneuerbares Energiesystem umzuwandeln. Deutschland gilt als Energiewende-Pionier: Seine Transformationsbestrebungen reichen zurück bis in die 1990er-Jahre und haben breite internationale Aufmerksamkeit erregt. Nach der Reaktorkatastrophe 2011 in Fukushima beschleunigten sich Deutschlands Pläne, aus der Atomenergie auszusteigen. Nebst Lob hat die deutsche Energiewende aber auch viel Skepsis geerntet.
Rund um Deutschlands Energiewende stehen viele Mythen im Raum. Die SES stellt die Fakten entgegen. Bild: London Array Limited
Fakten statt Mythen
Von den Medien und weiteren Akteuren wird häufig ein negatives Bild einer misslungenen Energiewende transportiert. Im Zentrum der Berichterstattung stehen irreführende Aussagen wie beispielsweise zur Rolle der Kohle, den Kosten oder der Entwicklung der Treibhausgasemissionen. Dies trägt den Erfolgen ungenügend Rechnung, welche die deutsche Energiepolitik insbesondere mit dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) zu verbuchen hat. Die SES hat deshalb die Behauptungen mittels einer aktuellen Analyse1 genauer angeschaut. Der Faktencheck korrigiert das ramponierte, negative Image der deutschen Energiewende.
Die Leistung der erneuerbaren Energien
Deutschland hat es geschafft, innerhalb von nur 20 Jahren die Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen um ein Vielfaches zu steigern. Inzwischen tragen Sonne, Wind und Co. über 38 Prozent zur Deckung des deutschen Strombedarfs bei (Stand 2018).
Deutschland hat bereits in die neuen erneuerbaren Energien investiert, als diese noch relativ teuer waren. Der Energiewende-Pionier hat somit entscheidend dazu beigetragen, dass die Lernkurven der neuen erneuerbaren Stromerzeugungstechnologien steil nach oben und die Kostenkurven nach unten zeigen. Wind- und Solarkraft produzieren heute den günstigsten Strom. Seit Jahren wird global mehr in erneuerbare als in konventionelle Energien investiert.
Deutschlands Energiewende – Mythen auf dem Prüfstand
Behauptung: Die deutsche Energiewende bzw. der Umbau des Energiesystems verschlingt Milliarden und ist schlicht zu teuer, die Umsetzung erfolgt ineffizient.
Fakt ist: Ein sauberes, erneuerbares und dezentrales Energiesystem kommt die Gesellschaft weitaus günstiger zu stehen als ein fossil-nukleares Energiesystem. Um eine korrekte Kostenbewertung vorzunehmen, sind die volkswirtschaftlichen Nettokosten relevant. In der Kostendiskussion werden oft irreführende Zahlen verwendet, welche einer gesamtheitlichen Kostenbetrachtung nicht genügen. Investitionen in erneuerbare Energien zahlen sich längerfristig aus.
Behauptung: Der Ausbau der erneuerbaren Energien treibt die Strompreise in die Höhe. Die deutschen Haushalte kämpfen mit den hohen Preisen.
Fakt ist: Dank des Ausbaus und des grossen Angebots an erneuerbaren Energien sanken die Strombeschaffungskosten massiv. Deutschland weist die zweittiefsten Strombörsenpreise Europas auf. In den letzten sieben Jahren sparten deutsche Stromkunden dadurch über 100 Milliarden Euro ein. Dass demgegenüber die Endkundenpreise in den letzten Jahren signifikant anstiegen, ist der Konstruktion der EEG-Umlage (ähnlich der Einspeisevergütung in der Schweiz) geschuldet. Im internationalen Vergleich sind die Haushaltsausgaben für Strom mit einem Anteil von 2,5 % nach wie vor sehr moderat.
Behauptung: Die Treibhausgasemissionen Deutschlands sind trotz Milliardeninvestitionen in die Erneuerbaren kaum gesunken.
Fakt ist: Die Emissionsreduktion verläuft nicht wegen, sondern trotz vermehrt erneuerbarem Strom zu langsam. Seit 1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands immerhin um über 30 % gesunken. Die erreichte Reduktion ist an erster Stelle dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu verdanken. Um seine Klimaziele künftig zu erreichen, muss Deutschland insbesondere seine Kohlekraftwerke rasch abstellen.
Behauptung: Nach dem Atomausstiegsbeschluss 2011, als die ersten AKW vom Netz genommen wurden, musste die resultierende «Stromlücke» mit Atom- und Kohlestromimporten gedeckt werden.
Fakt ist: Deutschland ist seit 2003 und bis heute Nettoexporteur von Strom. Der Wegfall von Atomstrom seit 2011 (minus 64 TWh) wurde mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien (plus 120 TWh) mehr als kompensiert. Dass die «Stromlücke» mit einer vermehrten deutschen Kohleverstromung gedeckt wurde, stimmt ebenso wenig. Zwar nahm die Kohlestromproduktion kurzfristig tatsächlich zu, dies war jedoch nur temporär der Fall und ist nicht auf die AKW-Stilllegungen, sondern den Energiemarkt zurückzuführen und ging mit zusätzlichen Stromexporten einher.
Behauptung: Der Kohleausstieg wird zu steigenden Strompreisen und steigenden Stromimporten führen.
Fakt ist: Der wegfallende Kohlestrom kann mit erneuerbaren Energien kompensiert werden. Falls der Ausbau der erneuerbaren Energien gemäss dem Ziel im Koalitionsvertrag 2018 (65 % des Stromverbrauchs erneuerbar bis 2030) fortgeführt wird, sind weder steigende Strompreise noch steigende Stromimporte zu erwarten.
Behauptung: Ein Energiesystem, welches ausschliesslich auf erneuerbaren Energien beruht, gefährdet die Versorgungssicherheit in Deutschland.
Fakt ist: Zahlreiche Studien modellieren, wie eine 100 % erneuerbare Energieversorgung für Deutschland aussehen kann. Einheimische, erneuerbare Energie vermindert die Importabhängigkeit und erhöht die Energiesicherheit. Heute gehört die deutsche Stromversorgung zu den stabilsten Europas. Zeitliche und internationale Vergleiche zeigen auf, dass kein Zusammenhang zwischen einem steigenden Anteil erneuerbarer Energien und der Versorgungssicherheit besteht. Die deutsche Netzbehörde stellt fest, dass es bislang nie negative Auswirkungen der Energiewende auf die Versorgungsqualität gab.
Behauptung: Die Energiewende hat nachteilige Effekte für die Wirtschaft. Die wirtschaftliche Prosperität wird verschlechtert, die deutsche Industrie durch teuren Strom benachteiligt und zahlreiche Jobs in der konventionellen Energiewirtschaft gehen verloren.
Fakt ist: Der Ausbau der Erneuerbaren hat weder in Deutschland noch europaweit zu einer Verlangsamung des Wachstums geführt. Deutschland gelang es, dank Effizienzmassnahmen seinen Energie- und Stromverbrauch vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Die Energiewende stärkt die lokale Wirtschaft. Das neue, dezentrale Energiesystem stellt weitaus mehr Arbeitsplätze zur Verfügung als das konventionelle, auf Grosskraftwerke ausgerichtete System. Ebenso profitiert die deutsche Industrie: Dank der tiefen Strombörsenpreise und der Befreiung von Umlagegebühren profitieren deutsche Firmen gar doppelt vom Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen war von Beginn an ein Ziel der Energiewende.
Behauptung: Die Energiewende ist mit Widerstand der deutschen Bevölkerung konfrontiert.
Fakt ist: Die Energiewende ist den deutschen BürgerInnen ein wichtiges Anliegen. Davon zeugen erstens die anhaltenden hohen Zustimmungsraten: Über 90 % der Bevölkerung beurteilt die Anliegen der Energiewende als «sehr wichtig». Zweitens die grosse Partizipationsfreudigkeit weiter Teile der Gesellschaft: Mehr als 40 % der erneuerbaren Anlagen sind in Bürgerhand.
*Die Autorin
Tonja Iten
Die Volkswirtin und Umweltwissenschafterin war von 2019 bis 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin der SES. Heute arbeitet und forscht sie bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL im Bereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zum Thema Suffizienz.
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